Selbstmitgefühl ist nicht Selbstmitleid

Menschen mit mehr Selbstmitgefühl können Schmerz und Misserfolge besser aushalten, weil sie sich nicht zusätzlich selbst verurteilen, isoliert fühlen oder zu sehr in ihre Emotionen reinsteigern. Ich erzähle ein Beispiel eines Freundes der aus einer Erfahrung des Leids Verbundenheit gemacht hat.

Selbstmitgefühl: Ein gutes Wort mit Selbst

Ist dir das auch schon einmal aufgefallen? Während die meisten Menschen Mitgefühl vorbildlich finden, verändert sich die Einstellung, wenn das Mitgefühl nach innen gerichtet ist. Bei Selbstmitgefühl werden einige unsicher. Ist das nicht wieder ein „böses“ Worte mit „Selbst“ so wie Selbstmitleid, Selbstüberschätzung oder Selbstverliebtheit, …?

Nein, es ist ein „gutes Wort mit Selbst“! Denn Menschen mit mehr Selbstmitgefühl können Schmerz und Misserfolge besser aushalten, weil sie sich nicht zusätzlich selbst verurteilen, isoliert fühlen oder zu sehr in ihre Emotionen reinsteigern. Ähnlich wie Achtsamkeit hilft Selbstmitgefühl unser Leid wahrzunehmen und nicht darüber zu urteilen. So verfängst du dich weniger darin und reagierst mit weniger Widerstand. Außerdem fügt Selbstmitgefühl etwas wichtiges hinzu: uns selbst mit Wärme und Sanftheit zu umarmen, wenn wir Leid erfahren.

Vor allem beinhaltet Selbstmitgefühl auch einen Aspekt von Weisheit, der uns unsere Menschlichkeit erkennen lässt: Nämlich die Tatsache zu akzeptieren, dass wir wie alle anderen Lebewesen Fehler machen und die gleiche Wahrscheinlichkeit haben von Pfeilen des Unglücks getroffen zu werden. Selbstmitgefühl räumt auf mit dem verbreiteten Irrtum, dass immer alles gut laufen muss und dass unsere Fehler oder unser Leiden zeigen, dass mit uns etwas nicht stimmt. Diese schlichte Einsicht kann das Gefühl von Verbundenheit fördern.

Aus Schmerz wurde Mitleid

Ein enger Freund von mir hatte bereits vor Jahren immer wieder Bandscheibenvorfälle. Er sagt sie kämen immer dann, wenn er besonders viel Stress hatte, er Kälte ausgesetzt war oder längere Zeit kein Rückentraining wie Schwimmen gemacht hat und dann eine unüberlegte Bewegung gemacht hat. So einfach wie sein Muster dahinter, so schmerzhaft und beeinträchtigend sind seine Bandscheibenvorfälle.

Vor zwei Wochen ist es ihm seit langem wieder passiert. Viel gesessen, monatelang nicht geschwommen, im kalten Fernzug gesessen und dann die Gemüselieferung hochgehoben. Er wusste gleich was los war, konnte wenig später vor Schmerz nicht mehr laufen, nicht sitzen, jeder Husten war Folter, … Er  war auf dem Sofa gefangen und sah keine Chance sich anzuziehen, um zum Arzt zu gehen. Schlimmer noch merkte er Stimmen wie „Mensch du, das hättest du doch ahnen können.“, „Wegen mir sind jetzt das verlängerte Wochenende und das wichtige Meeting heute Vormittag dahin.“, „Hey hättest du mal deinem Körper besser zuhören können, was er braucht.“ Auch mit seiner Freundin, die glücklicherweise an dem Morgen da war, konnte er nicht anständig kommunizieren. Er schämte sich und fühlte sich schuldig. So wurde aus Schmerz Leiden und Mitleid.

Mit Selbstmitgefühl wurde aus Leid Verbundenheit

Über das, was dann geschah war er am Telefon immer noch glücklich – und ich auch. Nachdem ihm keine aktive Handlung half, hat er hat sich einmal liebevoll von außen betrachtet und mit inneren Schmunzeln reflektiert, dass sein Widerstand in Form von Kritik und Fokussierung auf sein Leid die Situation nicht verbesserten. Daraufhin hat er eine Hand auf sein Herz gelegt – die Geste die er vor langer Zeit in seinem ersten Kurs Achtsames Selbstmitgefühl entdeckt hat – und tiefe Atemzüge genommen. Immer wenn eine neue Welle des Schmerzes kam, hat er sich gesagt „Du bist nicht der einzige Mensch, der leidet.“ Und „Es ist ok. Auch das wird vorbeigehen.“

Als ich das am Telefon hörte, habe ich an Christopher Germer gedacht, der einmal in der Trainerausbildung für Mindful Self-Compassion gleichmütig sagte: „Solange du einen menschlichen Körper hast, wirst du immer wieder emotionale und körperliche Schmerzen haben. Das gilt für jeden von uns hier mit einem Körper.“ Übertragen auf meinen Freund: Ihm wurde klar, dass er nicht mit dem Sonder-Ticket „Leben ohne Schmerz“ auf die Welt gekommen ist. Leben bedeutet eben mit Leiden konfrontiert zu sein. Und weil das für alle gilt, konnte er seine Gefühle von Scham und Alleine-Sein ablegen.

Nicht nur das, mit Selbstmitgefühl:

  • Konnte er sich zunehmend entspannen.
  • Die Selbstkritik war weg.
  • Er konnte wieder anständig mit seiner Freundin kommunizieren und sagen was ihm hilft.
  • Und bei jeder neuen Schmerzwelle konnte er sich mit allen Menschen verbinden, die an diesem Tag wohl auch unter Schmerzen litten – z.B. Menschen mit Covid, Menschen mit einer chronischen Krankheit, Menschen die in einer Beziehung unglücklich sind, ….

Noch besser: Endlich im Wartezimmer einer Arztpraxis angekommen, konnte er sein Mitgefühl ausweiten. Immer wieder hat er einen Atemzug Mitgefühl für sich genommen und sich gewünscht sich wieder sicherer in seinem Körper zu fühlen. Und mit dem nächsten Atemzug hat er den anderen Patienten gewünscht es möge ihnen gut gehen.

Selbstmitgefühl schützt vor Selbstmitleid im Alltag

Natürlich bin ich froh, dass ihm Selbstmitgefühl in dieser besonderen Situation geholfen hat und fand es inspirierend zuzuhören. Doch Selbstmitgefühl funktioniert genauso in alltäglicheren Situationen. Zum Beispiel, wenn

  • Du dich nicht verstanden fühlst
  • Du dich im Home-Office gestresst fühlst
  • Du dich erkältest oder ein anderes körperliches Leiden hast
  • Dich jemand verletzt oder wütend gemacht hat
  • Du das Gefühl hast versagt zu haben
  • Du dich in Grübeleien zurückziehst
  •  ….

Wann bist du das letzte Mal in Selbstmitleid verfallen? Welche Art des Selbstmitgefühls hätte dir geholfen?

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